Lockdown? Homeschooling? – Per Teams ins Mittelalter!

Mitten im Schuljahr steht für mich zum neuen Halbjahr eine neue Klasse an. Nicht, weil jemand in Ruhestand verabschiedet wurde und ich die Klasse übernehme. Nein, ganz regulär: Kunst und Musik in den Klassen 9 und 10 wechseln im Halbjahr, weil sie derzeit epochal unterrichtet werden. Warum das?

Vor ungefähr 10 Jahren hat die Landesregierung beschlossen, Kunst und Musik in den Klassen 9 und 10 nur noch einstündig unterrichten zu lassen.

Da das den damaligen Kunst- und Musiklehrern nicht sinnvoll erschien, haben sie sich auf eine Notlösung geeinigt und unterrichten Kunst und Musik epochal – d.h. zum Halbjahr das Fach wechselnd – zweistündig.

Das bedeutet: Lästiger Fachwechsel mitten im Schuljahr, aber wenigstens in der jeweiligen Fachepoche zweistündiger Unterricht. Leider gewöhnt man sich an solche Notlösungen, insbesondere wenn sich zwischenzeitlich größere Generationswechsel in der Lehrerschaft ereignen und „die Neuen” es gar nicht anders kennen.

Auch wir „Alten” gewöhn(t)en uns (leider) daran und mittlerweile gibt es auch ein reduziertes Programm. Statt dem ehedem üblichen Stoff, den man zweistündig übers Jahr unterrichten würde, gibt es halt nur die Hälfte an Inhalt.

Weniger Zeit und Klassenwechsel zum Halbjahr sind eine unschöne zusätzliche Belastung für alle. In diesem vom Lockdown geprägten Jahr kam noch hinzu, dass der Klassenwechsel in der Homeschooling-Phase stattfand.

Das heißt, ich gab nach dem Halbjahr zwei zehnte Klassen ab, mit denen ich zwischen Sommer und Weihnachten im Präsenzunterricht gearbeitet hatte  und sollte zum neuen Halbjahr mit einer 9 „virtuell” neu starten. Mit Schülerinnen und Schülern, die ich überhaupt nicht kannte.

Der Stoff ist mir vertraut, Varianten sind über die Jahre erprobt. Trotzdem kam ich mir (nach 30 Jahren Schuldienst…) wie eine Referendarin vor, die das Alles zum ersten Mal macht.

Wir benutzen in Kunst ein Lehrwerk, das nur sehr kurz auf das Thema eingeht, was wir am SMG in 9 anbieten. Erprobten praktischen Übungen fehlte somit der kunsthistorische Unterbau. Videokonferenzen mit völlig unbekannten Schülerinnen und Schülern? Ich war skeptisch. Und verbrachte – wie in der Referendarzeit vor über 30 Jahren – diverse Tage und Nächte grübelnd, bis ich passende Ideen und Lösungen fand.

Ich erinnerte mich an die „Initiale”, wichtiges Element der mittelalterlichen Buchkunst, mit dem ich sonst in die Praxis einsteige: Wir klären, was eine Initiale ist und dann gestalten die Schülerinnen und Schüler ihr Namensschild (und späteres Deckblatt des Kunst-Schnellhefters) mit einer von ihnen gestalteten Initiale.

Nebeneffekt: Mit den prägnanten Schildern kann ich die vielen neuen Namen schnell lernen.

Bei zwei neuen Klassen sind das fast 60 Namen mitten im Schuljahr. Da helfen schöne Namensschilder mit tollen Initialen! Aber wie die Schülerinnen und Schüler virtuell für „Initiale” erwärmen? Statt des üblichen Arbeitsblattes fand sich die Web-Seite einer Firma, die Faksimiles herstellt. Und auf dieser Web-Seite die Möglichkeit bietet, in den von ihnen hergestellten raren Büchern virtuell zu blättern. Ich war und bin begeistert!

Zum einen ist es Normalsterblichen kaum möglich, handgeschriebene mittelalterliche Bücher anzufassen und darin zu blättern. Außerdem werden sie in Bibliotheken verwahrt, die nicht jeder vor der Haustür hat. Ich erinnere mich gut, wie enttäuscht ich war, als ich als Studentin nach langer Anfahrt in der St.Galler Klosterbibliothek stand und nur die eine gerade aufgeschlagene Seite eines Codex anschauen konnte.

Mit den modernen Techniken kann nun jedeR in einem solch raren Unikat „blättern”. Auch in Unikaten, für die man sonst die halbe Welt und zahlreiche Museen bereisen müsste.

Ich wählte für meine Schülerinnen und Schüler drei passende Beispiele aus und schlug vor, darin zu „blättern”. Außerdem bot Wikipedia als Illustration des Begriffs „Initiale” eine sehr gute Abbildung aus dem „Book of Kells”.

Diesmal standen die „Namensschilder” nicht vor meinen Schülerinnen und Schülern auf ihren Tischen, um mir das Kennenlernen auf die Schnelle zu erleichtern. Aber ich bekam einen ersten Eindruck von ihnen durch diese Namensschilder, die sie mir per Teams schickten.

Unsere erste Videokonferenz diente erst einmal zur Klärung der vorhandenen Erfahrungen mit „Mittelalter”. Die Sammlung erbrachte einen Fundus, der weit über meinen Horizont hinaus ging und mich auf neue Ideen brachte: Es lebe die „Schwarmintelligenz”! Das Erprobte blieb als Basis – und wurde variiert.

Als weiterer guter Zugang zum Mittelalter hatten sich Dokumentationen zu zwei Bau-Projekten bewährt. Diese Bau-Projekte – die Burg Guedélon in Burgund und der Campus Galli in Süddeutschland - verfolgen jeweils den kühnen Plan, heute ein Gebäude mit den Mitteln und Möglichkeiten des Mittelalters zu errichten.

Das heißt zum Beispiel, Steine im Steinbruch zu brechen mit Werkzeugen, die man selbst geschmiedet hat. Mit Werkzeugen aus Metallen, die man selbst gewonnen hat. Die Steine zu behauen mit den Werkzeugen, die im Mittelalter zu Verfügung standen. Seile drehen, Körbe flechten, Holzschindeln machen, Ochsen vor Wagen spannen, Gefäße töpfern, Glocken gießen und vieles mehr gehört dazu.

Zu beiden Projekten gibt es gute Dokumentationen, die in einer Schulstunde in den Alltag des Mittelalters entführen. Ich beschloss, dieses Mal die Schülerschaft selbst individuell entscheiden zu lassen, ob sie ins Kloster oder in die Burg wollten. Als „Appetizer” gab es kurze Trailer, die die Entscheidung, auf was man sich länger einlassen wollte, vorbereiteten.

Zum „Campus Galli” gibt es einen viertelstündigen Film, der erklärt, wie ein Jugendlicher im Alter der Schülerinnen und Schüler von den Eltern ins Kloster gegeben wurde und wie sein Leben danach verlief. Erfreulicherweise bietet das Kloster St. Gallen, nach dem der berühmte St. Galler Klosterplan benannt ist, diesen Film auf seiner Web-Seite an.

In meiner Jugend gab es den St.Galler Klosterplan nur als Schwarz-Weiß-Abbildung in diversen Büchern. Die heutige Animation macht ihn dagegen in einer Viertelstunde Film sehr lebendig.

Auf der Web-Seite der Klosterbibliothek gibt es außerdem wie bei den Faksimile-Herstellern alle Bücher zum „Blättern” und Zoomen. Nächste praktische Aufgabe war – wie als Mitglied eines mittelalterlichen Skriptoriums – das Stück einer Handschrift von Hand zu kopieren.

Das „Q” des Folchart-Psalter konnte man auf der St.Galler Seite zoomen und so die Flechtbandornamentik intensiv studieren und gut ein Detail kopieren.

In der Videokonferenz ging es um die Erfahrungen mit der Praxis und um die handwerklichen Techniken, die man in Kloster und Burg beobachtet hatte.

Inspirierend und motivierend war auch, praktische Ergebnisse auf der BK-Seite der Klasse bei Teams zu teilen. Im Präsenzunterricht machen wir das mithilfe von Magneten an der Tafel, wo wir die Bilder sammeln. Jetzt belebt stattdessen die Teams-Seite die Arbeit der Klasse und illustriert - wie im Mittelalter - mit handgemachten Bildern den Text im BK-Klassen-Chat.

Zu diesem Zeitpunkt (dritte Woche?) waren die Schülerinnen und Schüler so sehr „im Mittelalter” angekommen, dass sie bereit waren, sich auf die informationslastigen Kurzfilme des bayerischen Rundfunks zur Kunstgeschichte („Stilepochen”) einzulassen.

Leider darf der Sender diese aus urheberrechtlichen Gründen nicht dauerhaft in seiner Mediathek anbieten, aber glücklicherweise hatte sie jemand bei youtube eingestellt. Eine gute Gelegenheit, Urheberrechte zu diskutieren und dann die Filme doch anzusehen.

Der Kunsthistoriker Hubertus Kohle führt dabei zu den wichtigsten Gebäuden der Romanik und Gotik, z.B. der Kaiserpfalz in Aachen, der Insel Reichenau, St.Gallen, Hildesheim, dem Dom zu Speyer und so weiter.

Die Schülerinnen und Schüler waren schneller als sonst mit allem vertraut und kannten auch die Fachbegriffe zu Gewölben und Grundrissen schon aus den Dokumentationen zu Guedélon und Campus Galli.

Hilfreich war auch, dass es im Netz unabhängig vom Film ein Arbeitsheft (aus Bayern?) gibt, das man benutzen kann, um Gelerntes zu vertiefen und z.B. den Grundriss von Speyer mit dem des Kölner Doms zu vergleichen und so die Entwicklung von Gebäudeteilen von der Romanik zur Gotik zu analysieren.

An diesem Punkt realisierte ich, dass es irgendwie besser funktionierte als im Präsenzunterricht. Warum? Viele gute Museen bieten mittlerweile eine hohe Qualität von virtuellen Zugängen zu ihren Kostbarkeiten – so viele Reisen dorthin könnten wir (leider) gar nicht machen. Die Schülerinnen und Schüler mit Forschungs- und Arbeitsaufträgen auf „virtuelle Exkursionen” zu schicken und in den Videokonferenzen die Erkenntnisse zusammenzutragen, bietet Raum für individuelle Entdeckungen.

Praktische Aufgaben lassen künstlerische Techniken dann gut nacherleben. Als Aufgabe per Teams gut zu organisieren – die Rückgabe ist sehr übersichtlich! Morgen (dieser Text entstand im April) sehe ich die Klasse zum ersten Mal „in Wirklichkeit”. Bin sehr gespannt!

Herzlich, U. Thiel

P.S.: Die Schülerinnen und Schüler der 9a entpuppten sich auch im „echten Leben” als Top-Performer.  LK BK 2022/23? Ja, bitte!